Patricia Arquette im Interview: Meine Familie lebte in einer Hippiekommune ohne Toilette (2024)

Frau Arquette, wir treffen uns hier in Berlin im Rahmen des Human Rights Film Festivals, wo Sie den Film „Holy sh*t“ unterstützen (der derzeit in den deutschen Kinos zu sehen ist). Jetzt sprechen wir also buchstäblich über Fäkalien?

Warum nicht? Dafür, dass wir alle seit Anbeginn der Menschheit jeden Tag in der Regel mindestens einmal pro Tag auf die Toilette gehen, um ein großes Geschäft zu verrichten, ist das Thema erstaunlich tabu, finden Sie nicht? Mir liegt das Thema jedenfalls am Herzen, denn ich bin nicht nur Schauspielerin, sondern mit meiner Organisation GiveLove auch in der Sanitätsversorgung aktiv. In dem Kontext fällt mir immer wieder auf, dass zwar dieser Tage überall von sauberem Wasser die Rede ist, aber kaum je davon, dass der Mangel an vernünftigen Sanitärsystemen der Hauptgrund für Verschmutzungen ist. Aber auch darüber hinaus beschäftigt mich als Frau das Thema Toiletten besonders.

Hat der Gang auf die Toilette etwas mit Feminismus zu tun?

Mehr, als Sie denken! All die Schwierigkeiten in Sachen Sanitäranlagen betreffen Frauen unproportional stark. Es gibt Gegenden, in denen Mädchen die Schule verlassen, sobald sie anfangen, ihre Tage zu bekommen, weil es keine Toilettenräume gibt. Orte, an denen Frauen und Mädchen in öffentlichen Toiletten vergewaltigt werden. Oder auch ganz einfach Gebiete, in denen es vor allem die Frauen sind, die zum Wasserholen geschickt werden – und von Jahr zu Jahr weiter laufen müssen, um Wasser zu finden, das sauber und keimfrei ist und ihre Kinder nicht krankmacht.

Sie gründeten GiveLove 2010, als Folge eines verheerenden Erdbebens in Haiti.

Genau. Anfangs ging es uns dabei um das Errichten von nachhaltigeren, widerständigeren Gebäuden und Gemeinden, einfach damit beim nächsten Erdbeben nicht gleich wieder alles so fürchterlich zerstört wird. Schnell zeigte sich dann, dass Wasserleitung, Sanitäranlagen und Kanalisation dabei eine der wichtigsten Baustellen sind. Also fing ich an, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ich musste wissen, welche Wassersysteme und Filter die besten sind, denn auf keinen Fall wollte ich eine von diesen Prominenten sein, die sich von irgendeiner Firma was schenken lässt, was dann am Ende gar nichts taugt und nur eine PR-Masche war.

Ich holte eine Expertin mit an Bord, meine Partnerin Alisa Keesey, die Erfahrung in der Entwicklungshilfe hatte und genau wusste, welche Fragen man stellen muss. Wo gibt es Nachschub, wenn die Filter für das Abwassersystem aufgebraucht sind? In welchen Ländern gibt es Leute, die das reparieren können? Werden Strom oder Generatoren benötigt? Wie verhindert man Diebstahl? Wie verhindern wir, dass irgendwas monatelang beim Zoll hängenbleibt. All diese Dinge müssen geklärt sein, wenn man nicht naiv in ein Desaster stolpern, sondern wirklich etwas bewirken will. Ich habe mich schlaugemacht und schnell festgestellt: Das Erste, was in Entwicklungsländern und ganz besonders in Katastrophenfällen fehlt, sind Toiletten.

Wo sind Sie heute am meisten tätig?

Inzwischen sind wir nicht nur darauf spezialisiert, Toiletten und Abwassersysteme zu installieren, sondern parallel auch Menschen auf diesem Gebiet weiterzubilden, damit sie sich später selbst darum kümmern können. Aktuell haben wir Projekte in Kenia und Uganda, die man teilweise nun auch im Film „Holy sh*t“ sieht. Aber auch in Kalifornien. Der Klimawandel und die schlimmen Brände, die dort jedes Jahr mehr werden, haben zur Folge, dass dort ganz neu über Abwassersysteme nachgedacht werden muss. Mit der Stadt Santa Cruz arbeiten wir da gerade an einem Pilotprojekt, das sich aktuell an Menschen richtet, die nach den letzten Bränden ihre Häuser neu bauen müssen. Aber in Zukunft soll sich das auch auf Tiny Homes oder Obdachlosenunterkünfte übertragen lassen.

Sie haben sich immer schon für wohltätige und politische Themen engagiert. In Ihrer Dankesrede beim Gewinn des Oscars 2015 etwa haben Sie lautstark gleiche Bezahlung für Männer und Frauen in der Filmbranche gefordert. Hat es Ihnen in Hollywood je geschadet, kein Blatt vor den Mund zu nehmen?

Ein bisschen sicherlich. Ganz genau weiß man es ja nie, weil einem die wenigsten in dieser Branche direkt ins Gesicht sagen, warum man einen Job nicht bekommen hat. Aber es gab auf jeden Fall immer mal wieder Situationen, in denen ich gemerkt habe, dass ich es mit Menschen zu tun hatte, die kein Fan davon waren, dass ich mich immer und überall zu den Themen äußere, die mir am Herzen liegen. Allerdings gab es im Gegenzug auch immer welche, die das sehr zu schätzen wussten. Am Ende des Tages kann ich aber auch gar nicht anders. Der Aktivismus liegt mir im Blut, meine Mutter hat ihn mir vererbt.

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Sie erwähnten mal, dass Sie schon als Kind immer wieder bei Demonstrationen mit dabei waren, richtig?

O ja. Und nicht nur das. Wir waren in meiner Kindheit auch ziemlich arm. Meine Familie lebte in einer Hippiekommune, in der es keine Toilette gab, man musste die Straße runter zu einem Plumpsklo laufen. Als Vierjährige im Winter, wenn es draußen dunkel ist und diverse Tiere unterwegs sind, ist das ziemlich gruselig.

Neben der Arbeit mit GiveLove engagieren Sie sich gegen Brustkrebs ...

Nicht zuletzt, weil meine Mutter Brustkrebs hatte. Sie konnte damals meinen Vater nicht verlassen, weil sie dadurch ihre Krankenversicherung verloren und keine beruflichen Chancen gehabt hätte. Das Schicksal teilt sie mit unzähligen Frauen in den USA.

Auf vielen der Gebiete, auf denen Sie sich engagieren, gab es lange Jahre gute Nachrichten und Fortschritte zu vermelden. Aber die Zeiten scheinen vorbei. Fällt es Ihnen schwer, dieser Tage hoffnungsvoll zu bleiben?

Keine Frage, ich spüre die Verzweiflung auch in mir, die aktuell so viele Menschen trifft. Die Abschaffung von Abtreibungsrechten, steigende Zahlen ermordeter Transpersonen – der Schock darüber, die Enttäuschung in uns als Menschheit, all diese Pfeile treffen mich momentan tief in mein Herz. Aber gleichzeitig bin ich immer noch optimistisch und vor allem begeistert, wenn ich mich umgucke unter den jungen Menschen dieser Tage. Die fragen ihr Gegenüber nach ihren Pronomen, weil sie jeden Menschen individuell wahrnehmen, sie sorgen sich um das Klima und sprechen über ihre Gefühle und Traumata. Diese Generation ist so viel weiter, als wir es waren. Das finde ich bemerkenswert und wundervoll.

War es für den Optimismus auch wichtig, irgendwann X alias Twitter, wo Sie lange sehr aktiv waren, den Rücken zu kehren?

Ja, das war die richtige Entscheidung. Auch wenn ich die Plattform vermisse, denn was Nachrichten und politische Inhalte angeht, ist Instagram keine Alternative. Dort finde ich immerhin kreativen Austausch und stoße zum Beispiel auf Kunst oder Musik, die ich neu für mich entdecke. Aber vermutlich werde ich auch dort irgendwann die Segel streichen.

Hatte Ihr Twitter-Abschied mit Elon Musk zu tun?

Ich habe viel Zeit investiert, mich dort gegen Hassrede zu positionieren, habe Tausende Accounts blockiert oder gemeldet, die sich rassistisch, hom*ophob oder frauenfeindlich geäußert haben. Als er ankündigte, all diese Leute wieder zuzulassen und die Blockier-Funktion abzuschaffen, war der Zeitpunkt gekommen, sich abzumelden. Wenn ich auf der Straße sehe, dass sich irgendwo Menschen betrunken danebenbenehmen, pöbeln, schreien und streiten, dann drehe ich ja auch um. Warum sollte ich mich direkt in die Müllgrube begeben?

Könnten Sie sich eigentlich vorstellen, mal selbst in die Politik zu gehen?

Mir wurde das schon ein paarmal angetragen, aber ehrlich gesagt sieht das Ganze selbst vom mir bislang bekannten Rand aus betrachtet nach ziemlich wenig Spaß aus. Im Politikbetrieb sind nach wie vor viele gute und kluge Menschen aktiv, übrigens auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Ich hatte schon richtig ergiebige Gespräche, bei denen man durchaus auf gemeinsame Nenner kam. Aber genau das scheint heute immer weniger gewünscht zu sein – und das ist es, was mich so frustriert. Es geht nicht mehr um Konsens und Kompromisse, sondern alle beharren auf ihren Positionen und wollen der Gegenseite nicht das kleinste bisschen zugestehen. Kein Wunder, dass unser Land festzustecken scheint und sich nichts mehr bewegt. Alle scheinen vergessen zu haben, dass sie eigentlich für die Bevölkerung arbeiten. Uns interessiert, dass Straßen ausgebessert, Schulen gebaut und Gesundheitsvorsorge auf den Weg gebracht wird, nicht eure Ideologie.

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